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(Artikel)

Im Gespräch mit dem Gast

Wir brechen eine Lanze für die qualitative Befragung.
Melanie Moebus

In Zeiten von Big Data brechen wir eine Lanze für die qualitative Befragung.

Bei einer heißen Tasse Kaffee sitze ich im Restaurant mit einem Gast des 4*-Hotels zusammen, in dem er – nennen wir ihn Egon – schon seit etlichen Wintersaisonen seine Skiurlaube verbringt. Die Aufgabe von Solid & Bold ist es, die neue Marke und ihr Design für das Hotel zu entwickeln. Zur Basis unserer Arbeit gehören Interviews mit Gästen, um sie mit ihren Sichtweisen besser zu verstehen und anschließend unsere zukünftigen Aktivitäten daran auszurichten.

Das Hotel hatte bereits Online-Umfragen durchgeführt und eine Menge über seine Gäste erfahren. Wo sie herkommen, welches Alter sie haben, mit wem sie verreisen und wie sie den Service, das Essen und die unterschiedlichen Angebote bewerten.

Doch wir bekommen keine Infos über das Warum oder was genau sie besonders gut oder schlecht finden. Durch die vorgefertigten Antworten haben die Gäste keinerlei Möglichkeiten, andere für sie wichtige Sachverhalte anzubringen. Und bei einer Online-Umfrage nach dem Warum zu fragen … sind wir mal ehrlich, würden Sie das machen? Hier ermüdet der Gast recht schnell und schreibt im schlimmsten Fall gar nichts dazu.

Es geht darum, neue Sachverhalte aufzudecken, was mit dem vorgefertigten Antwortschema einer quantitativen Methode nicht möglich ist.

In den Einzelinterviews können wir es locker angehen. Der Befragte kann frei sprechen, ganz ohne Vorgaben. Hier und da wird auch gelacht. Bei diesen Interviews gibt es keine falschen Antworten – das lasse ich zu Beginn des Gesprächs mein Gegenüber immer wissen. Nach ca. 45 Minuten treten viel mehr Insights zutage als bei einer Online-Befragung. Das ist ebenfalls Sinn und Zweck einer qualitativen Befragung. Es geht darum, neue Sachverhalte aufzudecken, was mit dem vorgefertigten Antwortschema einer quantitativen Methode so nicht möglich ist. Auch im Vergleich zu einer Typologie (Einteilung der Gäste in homogene Gruppen nach psychografischen, sozidemografischen Aspekten oder Lebensstilen) kann eine qualitative Befragung viel mehr dezidierte, auf das Hotel zugeschnittene Antworten liefern. Dazu gehört u.a. was die Gäste an dem Hotel besonders finden, warum sie gebucht haben und was sie wiederkehren lässt.

In den Gesprächen mit den Gästen können wir viel tiefer nachfragen oder ein Thema genauer durchleuchten, wenn wir merken, dass dieses von Bedeutung ist.

Somit bekommen wir die Möglichkeit herauszufinden, was aus Sicht der Gäste das Hotel einzigartig macht, was sie gut finden, was sie sich vielleicht noch wünschen und wo sie Verbesserungsbedarf sehen – eine wunderbare Basis für die Positionierung und Definition der Marke eines Hotels, die Ableitung von Maßnahmen für Produkte und Services und für die Inhalte der Kommunikation.

Gespannt höre ich also Egon zu, wie er mir von seinen Erfahrungen, Eindrücken und Meinungen zum Hotel erzählt. Ab und zu taucht auch Kritik auf und ich notiere mir zudem ein paar Verbesserungsvorschläge. Generell bringt Egon viele neue Sachverhalte auf, die dem Hotel vorher unbekannt waren.

„Die Qualität des Essens ist super, aber dieses Mal ist der Service nicht so gut,“ sagt Egon und runzelt dabei die Stirn. Er wirkt etwas enttäuscht. Interessant, da muss ich gleich nachhaken und frage ihn, was ihm genau am Service nicht mehr passt. „Die Kellner sind nicht so nett. Das finde ich nicht gut. Früher waren die viel offener, freundlicher und lustiger. Die jetzt wollen fast gar nicht mit dir reden. Es scheint auch so, als hätten die gar keine Lust auf ihren Job.“

Egon ist anscheinend ein kommunikativer Typ. Zudem ist er alleine hier, wie viele der Gäste. Er scheint also den Wunsch nach mehr Gesellschaft zu haben.

Ich frage Egon, warum er immer wieder herkommt und was ihm das persönlich bedeutet.

„Ich komme hier immer wieder her, weil es ein bisschen so ist wie früher.“

„Was bedeutet für dich wie früher?“ frage ich Egon.

„Naja, eben nicht so anonym, wie in vielen anderen großen Hotels. Die Leute sprechen hier mit dir. Sogar der Chef schenkt dir seine Aufmerksamkeit. Der weiß ganz genau, wer ich bin und fragt mich jedes Mal, wie es mit meinem Job läuft. Ihm habe ich mal vor Jahren davon erzählt. Das ist echt ein bisschen wie Familie hier, wie zu Hause, nur viel entspannter. Ich erinnere mich dann immer gerne an die guten Gespräche und die schöne Zeit. Deshalb fahre ich im Winterurlaub nur hier her.“

Was ich jetzt noch nicht weiß: Auch in weiteren Interviews mit anderen Gästen wird diese spezielle Atmosphäre immer wieder hervorgehoben. Interessant – bisher hatte das Hotel sich vielmehr auf die gute, zentrale Lage konzentriert und diese mehrfach kommuniziert. Nur ist fraglich, inwieweit dies ein Differenzierungsmerkmal zu den anderen zehn 4* Häusern, die ebenfalls im Zentrum des Orts stehen, sein soll. Ich überlege: „Das Familiäre und die Nähe zwischen Gastgeber und Gast könnte Potential haben. Vor allem, wenn es hier so viele Alleinreisende gibt.“ Doch scheint es Unstimmigkeiten zu geben, denn diese Atmosphäre ist wohl im Restaurant des Hotels nicht spürbar. Punkte, auf die ich in den anderen Interviews achten muss. Eventuell ist die Sichtweise von Egon kein Einzelfall.

Was sich bei Egon zeigt, ist seine klare Erwartungshaltung an das Hotel. Ihm ist das geborgene Gefühl wichtig und dass jemand da ist, der ihn beachtet. Er möchte sich im Urlaub nicht als einsamer Single fühlen.

So wie Egon hat jeder Gast stets eine Erwartung an das Hotel, das er besucht. Diese muss immer und überall erfüllt werden – vom Angebot über das Personal bis hin zum Design und der Kommunikation. Wird die Erwartung nicht erfüllt, kann der positive Eindruck leicht Risse bekommen. Die Erwartungshaltungen von Gästen basieren auf einer emotionalen Ebene. Denn so funktioniert Urlaub: Wir fahren immer (wieder) dort hin, wo wir die schönsten, berührendsten Momente hatten. Wie Egon, der nicht aufgrund der Lage immer wieder seinen Urlaub in diesem Hotel verbringt. Sondern wegen des Gefühls, dort Teil einer Gemeinschaft zu sein, die Wert darauf legt, mit ihm eine gute Zeit zu verbringen.

Besondere Emotionen auszulösen und Erwartungen zu erfüllen bedeutet jedoch nicht nur, Verbesserungen im Restaurant vorzunehmen.

So berichtet mir Egon „Früher hatten sie so eine warme und familiäre Atmosphäre. Jetzt ist es eher kühl. Außerdem finde ich, dass das ganze Hotel etwas in die Jahre gekommen ist. Irgendwie fühle ich mich da nicht mehr ganz so willkommen. Ist nicht so ansprechend. Sie könnten mit der Qualität ein bisschen raufgehen.“

Ich frage Egon prompt, was er mit der „Qualität raufgehen“ meint. „Naja, irgendwie moderner, aber nicht so hip. Es sollte schon noch seinen alten Charme behalten. Bessere, nachhaltigere Materialien wären gut, wo man die Qualität spürt. Die Bäder oder die Einrichtung des Restaurants und der Bar sind doch schon etwas veraltet.“

Nachdem ich weitere Interviews geführt habe, lässt sich ein gutes Bild erkennen. Die meisten der Gäste kommen eigentlich wegen der familiären Atmosphäre in das Hotel. Das bedeutet, dass sie sich hier nicht allein oder anonym fühlen. Vielmehr trifft man auf alte Freunde und neue Bekannte, mit denen man eine lustige Zeit verbringt. Allerdings gibt es Mitarbeiter, die diese persönliche Stimmung nicht verkörpern. Dies könnte für einige Stammgäste möglicherweise ein Grund sein, nächstes Jahr nicht mehr zu kommen. Vor allem neue Gäste bemängelten auch, dass die Anreise aufgrund der schlechten Beschilderung und den sehr engen Parkplätzen mühselig sei. Viele fühlten sich dabei nicht gleich willkommen. Andere wiederum führten die in die Jahre gekommene Interior Design des Hotels an. Meine Aufzeichnungen sind zum Schluss gespickt mit zahlreichen Verbesserungsvorschlägen und Wünschen, aber auch mit Lob und Dingen, die unbedingt beibehalten werden sollen.

Nach dem Zusammenfassen aller Ergebnisse sind wir zufrieden. Da ist eine Menge dabei, was uns bei der Positionierung bzw. Differenzierung des Hotels helfen wird. Zudem können wir eine Marke definieren, die sich genau mit dem Bedürfnis der Gäste deckt. So versteht jeder Gast im Vorfeld, was er von dem Hotel erwarten darf. Die zusätzlichen Wünsche, Verbesserungsvorschläge, Lob und Kritiken helfen uns zudem dabei, ein konsistentes Gästeerlebnis zu kreieren, so dass der Gast mit schönen Erinnerungen nach Hause fährt und vielleicht sogar wiederkommt. So werden das neue Markendesign und das Interior Design ein persönlicheres Flair bekommen. Es sollen Räume geschaffen werden, die Momente der Begegnung ermöglichen, so dass sich die Gäste noch mehr als Teil einer (Hotel-)Gemeinschaft fühlen. Auch einige Kritikpunkte der Gäste werden aufgegriffen und verbessert, wie z.B. ein selbst erklärendes und gut wahrnehmbares Orientierungssystem zum und im Hotel.

Bei der Präsentation der Ergebnisse ist der Kunde angesichts der neuen Erkenntnisse positiv überrascht. Denn obwohl er viel mit seinen Gästen spricht, halten sich die meisten mit Lob oder Kritik zurück. Vieles ist dabei, was der Kunde mit Hilfe seiner Online-Befragung nie herausgefunden hätte. Er überlegt sogar, ein paar Punkte noch einmal quantitativ abzufragen – manche bemängelten u.a. den zu kleinen Spa.

Bei der qualitativen Befragung in Form von Gäste-Einzelinterviews ergeben sich schnell wertvolle und oft unerwartete Erkenntnisse – meist reicht eine geringe Anzahl von 5 bis 20 Befragten.

Doch eines sei zu bedenken: Solche Interviews verlangen Erfahrung, Empathie und ein gutes Gespür, wo man noch etwas tiefer nachhaken sollte. Es ist wichtig, sich auf sein Gegenüber einzulassen und eine Sympathie bzw. Vertrauensbasis aufzubauen. Nicht jeder Mensch ist so kommunikativ und offen wie Egon – auch mürrische, verschlossene Menschen können uns als Gesprächspartner gegenübersitzen.

Und Egon? Ich bedanke mich für seine Zeit und die vielen nützlichen Einblicke. Auch er ist froh, dass wir das Gespräch geführt haben und dass dem Hotel seine Meinung wichtig ist. Er freut sich schon auf das heutige Abendessen, das er vom Hotel als Dankeschön erhält.

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